Die Trend-Redaktion von Thurgauer Naturstrom hat drei Energiefachleute zum Thema Energiewende eingeladen. In der Gesprächsrunde dabei sind Martin Müller, Energieexperte Kanton Thurgau, Frauenfeld; Fabian Brühwiler, Geschäftsführer MBRSolar, Wängi, und Marcel Stofer, Leiter Strategische Projekte bei der EKT, Arbon.
Am Wendepunkt stehend
Die drei Energiefachleute sind sich einig, dass unsere Gesellschaft an der dritten Energiewende angekommen ist. Der Grund für deren Notwendigkeit ist besonders beim gigantischen CO2-Ausstoss unserer permanent wachsenden Weltbevölkerung und dessen Folgen in der globalen Klimaerwärmung zu finden. Fabian Brühwiler fokussiert auf den gesamten Energiemix: Alles strebt nach sauberem, ökologisch produziertem Strom. Praktisch heisst das: Neue erneuerbare Energien werden zum Fundament unserer planetaren Kultur werden.
Effizienz und Suffizienz
Martin Müller geht davon aus, dass sich der Gesamtenergieverbrauch pro Kopf in den nächsten Jahren senken lässt. Er bestätigt, dass die Kantone in diese Richtung gehen. Die Stossrichtung ist die Idee der 2000-Watt-Gesellschaft. Zurzeit haben wir einen relativ stabilen Pro-Kopf-Verbrauch von knapp unter 6000 Watt pro Kopf und Tag in der Schweiz. Dass effizientere Energienutzung viel Potenzial birgt, belegt die Effizienzsteigerung bei der E-Mobilität. Marcel Stofer rechnet vor: Ein effizientes E-Auto mit 10 kWh Strom im Tank fährt 100 Kilometer weit. 10 kWh entsprechen einem Liter Benzin. Wir alle aber wissen, dass wir mit einem Liter Benzin nicht weit kommen. Das heisst nichts anderes, als dass ein E-Motor bis sieben mal energieeffizienter arbeitet. Martin Müller ergänzt: Das elektrische Auto ist technologisch für den Alltagseinsatz ausgereift. Auch andere Technologien sind da – wir müssen diese ganz einfach jetzt nutzen.
Vernetzte Stromnutzer und Stromspeicher
Um ein stabiles Stromnetz zu unterhalten, sind seit jeher alle Stromproduzenten miteinander vernetzt, denn das Stromnetz darf nicht zu grosse Spannungsschwankungen haben. Das Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch muss jederzeit hergestellt werden können. In Zukunft ist es wichtig, dass auch alle grösseren Stromverbraucher in die Spannungsregulation eingebunden sind. Denn die schwankende lokale und kontinentale Wind- und Solarstromproduktion soll im besten Fall sofort von Tiefkühltruhen, Kühlhäusern, Wärmepumpen, Boilern etc. aufgefangen und genutzt werden können. Das ist in der Regel auch günstige Stromenergie. Die Überproduktion kann dann zum Auffüllen von Speicherseen, Haus- oder Quartierspeichern genutzt werden. Das Paul Scherrer Institut betreibt bereits heute eine fortgeschrittene grössere Versuchsanlage, um Solarstrom direkt in den Energieträger Wasserstoff umzuwandeln. In Deutschland wurde 2016 bei der Hälfte aller Solaranlagen zusätzlich eine Solarbatterieanlage eingebaut. Auch Fabian Brühwiler hat seine Solaranlage mit einer Solarstrombatterie nachgerüstet. Er berichtet, wie seine Familie jetzt noch bewusster den Strom nutzt.
Die Technik ist weitgehend entwickelt, nur unser Verhalten noch nicht
Die drei Thurgauer Fachleute sind sich weitgehend darüber einig, dass technologisch und preislich nichts mehr gegen neue erneuerbare Energien spricht. Das grösste Problem sei heute, das praktische Wissen zu vermitteln und zum praktischen Schritt anzustupsen. Heute tankt man einen Wagen, wenn der Tank nächstens leer sein wird. Ein E-Auto hingegen dann, wenn man es parkt – sei es am Arbeitsplatz, beim Detailhändler, auf Parkplätzen, beim Restaurant. An diesem Beispiel erläutert Marcel Stofer, wie sich Verschiedenes in den Köpfen und im Verhalten ändern wird.
Das Wichtigste ist heute günstig
Grössere Photovoltaikanlagen können Strom zu Kosten zwischen 7 und 10 Rappen pro kWh produzieren. Die Gestehungskosten für Solarstrom sind seit dem Jahr 2010 um rund 80 Prozent gesunken.
Thurgauer Windstrom
Ökologisch produzierter Strom ja, aber nicht vor meiner Haustüre. Auch da sind Fakten wichtig, um die Bedeutung zu verstehen. Die aktuell geplanten Windstromprojekte im Thurgau könnten 10 bis 15 % (!) des jährlichen Stroms im Thurgau decken –und das bei vergleichsweise wenig Nachteilen. Um das verstehen zu können, ist wiederum Faktenwissen hilfreich. Ein Windstromwerk verursacht nur bei Wind Geräusche, und diese stehen dann immer im Verhältnis zum Windgeräusch an sich. Marcel Stofer bringt ins Gespräch, dass sich die Technik laufend weiterentwickeln wird. So erzeugen vertikale Windturbinen deutlich weniger Lärm. Windturbinen werden das Landschaftsbild verändern.
Anfänglich waren Solarpanels für viele ein Unding, heute sind sie keine Diskussion mehr wert. Marcel Stofer spitzt es zu: Selbst auf unserem Ostschweizer Hausberg, dem Säntis, befindet sich zuoberst eine künstliche Spitze. Aber hat sich schon jemand daran gestört?
Windkraftanlagen werden so gebaut sein, dass die Nachtruhegrenzwerte eingehalten werden. Oft werden Windturbinen auch als «Vogelfallen» bezeichnet. Stimmt aber nicht, stellt selbst die Vogelwarte Sempach fest: 20 tote Vögel pro Anlage und Jahr wurden wissenschaftlich erhoben. In der Schweiz aber sterben 10 Millionen Vögel wegen Gebäuden, 1,1 Millionen wegen Katzen und 1,8 Millionen wegen Autos.
Die Energiewende bleibt weiterhin zuerst Kopfarbeit.
Eine Energiewende nach der anderen
In der ganzen Menschheitsgeschichte war seit der Entdeckung des Feuermachens Holz der dominierende Energieträger. Im ländlichen Thurgau heizten die Menschen mehrheitlich mit Holzenergie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.
Die erste Energiewende erfolgt zu Beginn der Industrialisierung. Es werden riesige Mengen an Holz genutzt, die durch Kohle mit seiner grösseren Energiedichte ersetzt werden. Besonders die Steinkohle bewährt sich für das Schmelzen von Erzen und den Betrieb von Dampfmaschinen. Die Eisenbahn erzielt riesige Effizienzgewinne bei Transportkosten. In europäischen und amerikanischen Städten leidet aber die Luftqualität unter der massenhaften Verbrennung von Kohle.
Die zweite Energiewende bahnt sich um 1900 an. Erdöl war den Menschen schon Tausende von Jahren bekannt. Aber erst Edwin Drakes Bohrung 1859 in Pennsylvania löst einen Boom aus. Er stösst in 21 Meter Tiefe auf das erste grössere Erdölvorkommen. Kohle bleibt in vielen Nutzungsbereichen noch Jahrzehnte der führende Energieträger. Ein zeichenhafter Wendepunkt ist der Londoner Winter von 1952: Über mehrere Tage liegt ein dichter Smog über der Stadt, rund 4000 Menschen sterben an der vergifteten Luft. Dieses Ereignis treibt die zweite Energiewende an: Erdöl wird zum dominierenden Energieträger. Der Staat verbietet teilweise die Nutzung von Kohle und verlangt Ölheizungen.
Kaum hat sich das Erdöl in allen Lebensbereichen als Hauptenergieträger durchgesetzt, wird – mit viel Hoffnung verknüpft – die Kernenergie als zusätzliche grosstechnische Energiequelle genutzt. Es ist keine Energiewende. Kernenergie hilft vor allem, den gigantischen und ungezügelten Energiebedarf zu decken. Ab den 1970er-Jahren werden Einfamilienhäuser bevorzugt mit AKW-Strom beheizt. Alternative Technologien zur Energiegewinnung machen grosse Fortschritte und werden auch wirtschaftlich konkurrenzfähig.
Die dritte Energiewende in Europa wird durch den schweren Unfall in den japanischen Kernreaktoren der AKW in Fukushima angestossen.